Jetzt ist immer anders
Oktober 2014
Fünf Jahre des Experimentierens sind mental und physisch durch über 400 Beteiligte hindurch geflossen: Experten für gewaltfreie Kommunikation, vegane Köche, Komponisten, Anwälte, Philosophen, Sozialwissenschaftler, Astrophysiker, Architekten, Dichter, Parcours- und Slacklinespezialisten, Choreographen, Künstler, einen Reh-Imitator, einen Kung-Fu Meister und einen Politiker. Sie alle kamen ans Institut für Raumexperimente und hinterließen ihre Spuren bei Teilnehmenden, Lehrenden und Freunden. Sie wurden das Institut für Raumexperimente – im täglichen Gebrauch ifrex genannt – indem sie einen Weg des Fragens und Lernens mitgestalteten, der permanent Baustelle blieb. Vo seinem Selbstverständnis blieb das Institut kontinuierlich ein Bildungsmodell in the making. Nie haben wir uns auf ein Modell festgelegt – weil wir es nicht wollten. Von 2009 bis 2014 befand sich das Institut ein Stockwerk über meinem Berliner Studio, aber es ging seinen eigenen Weg. Es war eine Kakophonie aus Stimmen und Begegnungen – und ist es noch immer. Die Aktivitäten des Institutes bleiben weiterhin unter www.raumexperimente.net zugänglich, einem umfangreichen Online-Archiv, das wir öffentlich gemacht haben, damit sich unsere gesammelten Ideen und Aktionen (genauso wie wir und ihr) auch in Zukunft weiterentwickeln können.
Großzügigkeit und Inklusion waren Ideale, die jede Art von Begegnung am Institut bestimmten. Ideale, die ich generell als grundlegend für Kunst verstehe. Dort, wo andere Bereiche der Realität mit diesen Begriffen oft Schwierigkeiten haben, inspiriert Kunst Vertrauen und lässt Verschiedenheit stehen, sowohl von Meinungen als auch von Ausdrucksformen. Am Institut wollten wir offen bleiben für einen Raum, den Menschen, Kunst und Ideen gemeinsam bewohnen; für die Anforderungen, die sie an unsere Zeit, an unsere Sinne und Aufmerksamkeit stellen. Wir haben immer darauf bestanden, dass jede neue Begegnung, ob geplant oder unerwartet, potenziell wichtig und künstlerisch wertvoll ist. Wir waren sicher, dass es ungemein wichtig ist, offen für ein gewisses Maß an Ungewissheit zu sein, um kritisches Material und Gedanken in die Runde tragen zu können.
„Contact is content“ ist ein Satz, den ich erst vor Kurzem vom Umwelt-Theoretiker Timothy Morton aufgegriffen habe. Inhalte entstehen, wenn wir etwas oder jemanden berühren – den Boden berühren, die Stadt berühren, einen anderen Menschen berühren.
Das Potenzial eines Kunstwerkes liegt nicht ausschließlich im Objekt oder Konzept; vielmehr liegt es in der Berührung von Objekt, Mensch und Welt. Eine grundlegende Fertigkeit, die wir entwickeln müssen, ist unsere Fähigkeit, das Zusammenspiel von Idee und Handlung, von Ding und Welt zu verstehen. Das gilt für Kunst genauso wie für Bildung und das Leben an sich. Es geht darum zu begreifen, dass es kein Außen gibt. Wir alle sind unweigerlich in der Welt, in Netzwerke integriert und eingebunden.
Kunst zu machen und kreativ zu arbeiten, bedeutet eine Verbindung zwischen Diskursen über persönliche und soziale Werte und (physischer) Form herzustellen. Es ist eine Art zu Handeln. Eine Skulptur zu schaffen, sich in Zeitlupe zu bewegen, eine Bewegung zu choreographieren oder ein Gebäude zu entwerfen, heißt Realität zu formen. Es bedeutet, Ideen und Werten Schritt für Schritt Gestalt und Körper zu geben, Raum zu geben – sie Raum werden zu lassen, sie räumen zu lassen. Es ist ein Prozess der Verkörperung.
Und Verkörperung – genauso wie das Schaffen von Realität, Inklusion und Vertrauen – war eine der Ideen, die unsere Arbeit am Institut motivierten. Ideen wie diese haben uns bei jedem der dreitägigen Marathons, bei Spaziergängen im urbanen Raum und Reisen nach Brasilien, Äthiopien, Japan, Island oder China begleitet. Sie haben uns ebenso begleitet, wenn wir Ausstellungen planten oder während ich mit Christina Werner und Eric Ellingsen , den großartigen Co-Direktoren des Institutes, jedes Semester neu gestaltet habe.
Ich habe die Teilnehmenden immer ermutigt, sich die grundlegendste Frage überhaupt zu stellen: Warum? Auch wenn dies eine Frage ist, die sich nicht unbedingt sprachlich beantworten lässt, denke ich, dass es eine Tendenz gibt, das Warum beim Kunstmachen und bei individuellen Entscheidungen, die dabei ins Spiel kommen, zu übersehen. Ich verstehe das Warum als Klebstoff zwischen Kunstwelt und Welt. Durch das Warum wird das Kunstwerk erst zur Realitäts-Produktionsmaschine; es macht deutlich, dass Kunst in den unterschiedlichsten Kontexten Akteur ist. Die meisten Kunsthochschulen lehren so, als ginge es bei Kreativität darum, sich zwischen zwei Farben oder zwei Materialien zu entscheiden. Kreativ sein bedeutet aber zu sehen, welche Konsequenzen unsere Material- oder Farbwahl auf die Welt und in der Welt hat. Alle Teilnehmenden, die schließlich zum Institut für Raumexperimente wurden, hatten ein Interesse daran, welche Konsequenzen ihre künstlerische Entscheidungen haben und wie Kreativität die Welt mitgestaltet. Wir haben mit unterschiedlichen Kunstsystemen gearbeitet; damit, wie sich künstlerische Ideen kommunizieren lassen; damit, in welchen Kontexten Kunstproduktion stattfindet. Denn weil diese Kontexte so eng mit den Kunstwerken verbunden sind, werden sie Teil von ihnen.
Um diese Kontexte besser zu verstehen, haben wir eine Vielzahl an Events und Experimenten organisiert, die buchstäblich auf der Straße stattfanden, in Berlin und unterschiedlichen Orten weltweit. Die längste, am nachhaltigsten wirkende Exkursion war unser zweieinhalb-monatige Aufenthalt in Äthiopien, der im Herbst 2012 stattfand. Dieser Studienaufenthalt wurde großzügig von der Alle School of Fine Arts and Design der Addis Ababa University ausgerichtet.
Für mich geht es in Addis Abeba genauso um Leben und Kunst, wie in jeder anderen Stadt, die wir hätten besuchen können. Es ist ein dynamischer Ort zum Leben und Denken, mit anderen Zeit zu verbringen oder Kunst zu machen. Und es ist ein Ort – da war ich mir sicher –, der uns inspirieren würde, Selbstverständlichkeiten des Alltags zu hinterfragen. Addis bot uns tatsächlich die Möglichkeit, die räumlichen und zeitlichen Dimensionen von Kunstwerken auf den Prüfstand zu stellen und zu durchdenken, danach zu fragen, wie sie hinausreichen in die Welt und ihr soziales Potenzial entfalten – mit anderen Worten: die performativen Qualitäten von Kunst zu nutzen und zu überdenken. In Äthiopien haben wir das getan, was wir sonst in Deutschland getan hätten: Wir luden alte und neue Kollegen, Freunde und Kooperationspartner ein, uns in unserem temporären Zuhause an der Alle School of Fine Arts and Design zu besuchen, deren großartiges Team unser Gastgeber war. Addis zu erleben war eine tiefgreifende Erfahrung. Und genauso interessant war es, Berlin aus dieser Perspektive zu betrachten.
Egal ob in Berlin oder Addis, die Gesellschaft ist ein System, das wir als Bewohner konstruieren. Wir alle schaffen sie gemeinsam, indem wir sie nutzen. Gesellschaften schaffen Hierarchien, die wiederum Realitäten schaffen. Aber Hierarchien sind auch verhandelbar. Realität ist verhandelbar. In Addis wurde die frühere Pferderennbahn Jan Meda zu einer Versuchsstation für alternative Begegnungen und Modelle der Wissensproduktion. In Berlin war der ehemalige Flughafen Tempelhof ein solcher Treffpunkt. Die Versuche, die dort und in den gesamten fünf Jahren ifrex gemacht wurden, leben auf den Seiten unseres neuen Buches TYT [Take Your Time], Vol. 6: Institut für Raumexperimente, 2009–2014; How to Make the Best Art School in the World weiter.
Während der gesamten Laufzeit des Instituts habe ich institutionellen Hierarchien wenig Raum gegeben. Es wäre falsch zu glauben, dass meine Art kreativ zu sein ein Modell ist, das andere übernehmen. Alle Teilnehmenden mussten erst ihre Form der Umsetzung finden, ihre Art, künstlerische Ideen zu realisieren. Zuerst nannten wir alle am Institut ‘Teilnehmer’, später Praktizierende; jeder war schon Künstler. Sie standen vor denselben Herausforderungen, vor denen alle Künstler stehen. Das Wichtigste für die Teilnehmenden war es, Vertrauen in das zu entwickeln, was sie tun. Dieses Vertrauen und die Überzeugung, dass alles möglich ist, ist eine starke Antriebskraft. Beim Lernen ist es wesentlich produktiver, dieses Gefühl zu vermitteln als handwerkliche Fertigkeiten, Fähigkeiten oder Karrieremanagement. Unser Ansatz am Institut war es daher, aus den Bedürfnissen der Teilnehmenden heraus zu lehren und in ihrem Sinne zu arbeiten, nicht auf ihre Kosten. Deshalb haben wir die Themen für unser gemeinsames Lernen aus individuellen Projekten abgeleitet, statt auf übergreifenden Themenkomplexen zu bestehen. Der Lehrplan wurde erst am Ende des Semesters geschrieben, wenn überhaupt.
Vertrauen zu schaffen in die persönliche Entwicklungsrichtung der Künstler und in den Prozess, der von der Idee zum Kunstwerk führt, ist ein Kontrastprogramm zur teils destruktiven Fokussierung auf Kritik, die in vielen Kunsthochschulen üblich ist. Dies zeigt sich besonders in ihren Auswahlprozessen oder in der Art und Weise, wie Arbeitskritiken praktiziert werden. Von dieser Maschinerie entkoppelt zu sein ermöglichte es uns, eine positivere und überraschendere Perspektive einzunehmen. Ich vermute, dass mich einige der Teilnehmer als weich empfunden haben. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Anleitung gewünscht wurde, ein ‘Das ist großartig’ oder ‘Das wird nie funktionieren’. Doch mein Beitrag lag vielmehr darin, zum Ursprung ihrer Frage vorzudringen, sich darauf zu konzentrieren, woher diese Frage kam. Mir war es wichtiger, die Teilnehmenden darin zu unterstützen, ihre eigene Sicht auf das Warum und Wie zu entwickeln, als Meinungen über die Resultate ihre künstlerischen Versuche zu äußern – die Kunstwerke.
An einer Kunsthochschule zu lehren sollte darauf zielen, die Teilnehmenden zu inspirieren, indem sie die Verhandelbarkeit und Instabilität von Realität erfahren, und ihnen Vertrauen zu vermitteln. Sie sollten sich mit dem Wissen, dass die Welt voller Risiken steckt und unvorhersehbar ist, anfreunden können. Wenn du akzeptierst, dass sich alles verändern lässt, macht dich das als Künstler unglaublich stark. Es ist harte Arbeit, denn jedesmal wenn du etwas tust, musst du das System und die Prinzipien, nach denen du arbeitest, neu erfinden. Du musst die Gegenwart neu konfigurieren. Es gibt kein Ausweichen in Formalismus. Es gibt keine wiederholbaren Erfolge. Künstler zu sein bedeutet, Relativität und Ungewissheit zu akzeptieren, dabei aber präzise zu bleiben.
Ich hatte das Glück, mit einem inspirierten und inspirierenden Team zu arbeiten. Christina und Eric glaubten an das Potenzial, das darin steckt, jeden Tag für sich zu betrachten. Sie glaubten an die Qualität, die daraus entsteht, sowohl geplante als auch unvorhergesehene Begegnungen zu akzeptieren, dabei aber offen für die feinen Zwischentöne des künstlerischen Schaffens zu bleiben. Das Team, das mit Christina und Eric zusammenarbeitete, teilte die Verantwortung, das Programm mit ihnen und den Teilnehmern des Instituts zu entwickeln. Bildung wurde produziert, nicht konsumiert.
Ich danke allen, die an dieser ungewissen Reise teilgenommen haben.
Olafur Eliasson