NOWs: Silent World by Julian Charrière
Silent World
Einzelausstellung
DITTRICH & SCHLECHTRIEM
Linienstraße 23
10178 Berlin
Eröffnung: 26. April, 18 h
DITTRICH & SCHLECHTRIEM freuen sich, die vierte Einzelausstellung des Künstlers Julian Charrière in unserer Galerie zu präsentieren. Sie trägt den Titel Silent World und eröffnet zum GALLERY WEEKEND BERLIN 2019. Der schweizerisch-französische Künstler Julian Charrière (geb. Morges, Schweiz, 1987), der in Berlin lebt und arbeitet, schafft Werke, die Brücken zwischen Umweltwissenschaft und Kulturgeschichte schlagen. Seine Performances, Skulpturen, Fotografien und Videos umfassenden Projekte entstehen oft aus Feldforschungen an entlegenen Schauplätzen mit besonderen geophysikalischen Profilen wie Vulkanen,
Eisfeldern und radioaktiv verseuchten Orten.
Silent World widmet sich der Unterwasserwelt als einem Reich der Träume: einem Raum, der in unserem Imaginären gerade deshalb einen herausgehobenen Platz einnimmt, weil er so fremdartig und nur schemenhaft erkennbar ist. Mittels Fotografie und Video inszeniert die Ausstellung Begegnungen zwischen den Umrissen menschlicher Körper und ihrer augenfälligen Auflösung. Mehrere Bilder zeigen Freitaucher in einer Cenote, einer mit Wasser gefüllten Höhle in Mexiko, in dem Moment, in dem sie eine sogenannte Chemokline durchdringen; ihre Körper verschwinden zur Hälfte in einer Suppe von Schwefelbakterien. In den Aufnahmen wird ein ikonografisches Unbewusstes wach, das den Tauchgang in einen wahrhaften Höllenschlund zu einem höchst anspielungsreichen Abenteuer werden lässt. Gleichzeitig ist die Welt, die sie zeigen, schweigend, denn über sie zu sprechen übersteigt das Vermögen jedes einzelnen Zeugen. Was nicht heißt, dass Menschen es nicht versucht hätten. Der Titel von Charrières Ausstellung ist einem frühen Unterwasserfilm von Jacques Cousteau entliehen, mit dem bewegte Bilder aus den Tiefen des Ozeans die Kinoleinwände erreichten. Damit war die Tür zur Tiefsee als Ort der Imagination aufgestoßen, die erste Bergung eines Schatzes, den heute Fernsehdokumentationen in hoher Auflösung vor uns ausbreiten, und so sind sogar Zuschauer, die noch nie auch nur einen Tauchkurs gemacht haben, versucht zu meinen, dieser Ort sei ihnen vertraut. In Wirklichkeit haben die Ozeane viele ihrer Geheimnisse bewahrt. Eine eingehendere Auseinandersetzung mit diesem Raum, so legen Charrières neue Arbeiten nahe, könnte auch unsere eigene Identität in ein ganz neues Licht rücken.
In Silent World präsentiert der Künstler eine neue fotografische Serie: Freitaucher, die sich im flüssigen Halbdunkel verlieren. Ihre nackten und, im Bildsinn gesprochen, verschwommenen Figuren dringen in eine neue Tiefenschicht der ozeanischen Vorstellungswelt vor – Seen und Flüsse innerhalb der Meere; einzigartige mikrobiologische Kosmen. Als Beitrag zum in den letzten Jahrzehnten komplexer gewordenen Gesamtbild des ozeanischen Systems sind solche Welten innerhalb von Welten eine recht neue Entdeckung. Unser wachsendes Wissen über die Ozeane hat eine Revolution in zahlreichen Feldern, von der Theorie der Evolution bis hin zur Klimaforschung, ausgelöst. An der Schwelle dieses bisher schweigenden (ungesehenen und ungedachten) Reichs verharren Charrières Taucher in beinahe tänzerischen Posen. Oder fangen die Bilder sie in einem anmutigen Sturz in die Tiefe ein? Woher kommen sie, wohin führt ihr Weg?
Begleitet werden die Fotografien von Videobildern, die ein Projektor unter der Decke auf einen Bildschirm wirft, von dem Dunst aufsteigt: die Strahlen der Sonne, die, durch die Wasseroberfläche gebrochen, in die Tiefe dringen. Für die Aufnahmen wurde die Kamera himmelwärts dem Licht entgegen gerichtet. In der Installation wird diese räumliche Orientierung genau umgekehrt – die Sonne, so scheint es, ist in der Tiefe versunken und leuchtet aus ihr hervor. Die Verkehrung unterstreicht den großen konzeptuellen Ernst der Geste. Unten wird oben, oben wird unten, ein Feuer scheint in der kalten Tiefe zu brennen. Und die scheinbar hinabstürzenden Taucher (in den Fotografien) steigen vielleicht in Wirklichkeit doch auf. Nach dieser Logik jedenfalls ist es am Ende womöglich der Betrachter selbst, der auf dem Kopf steht. Alles ist im Umbruch.
Das Meer ist eine uralte Quelle von Metaphern, deren sich religiöses und philosophisches Denken seit grauer Vorzeit bedient haben. Gemeinhin steht es für eine unfassliche Größe, ein Unendliches. Aus solcher Mystik erwächst koloniale Hybris – denn wie kann man sich aneignen, was endlos scheint? Wie können unermessliche und unergründliche Tiefen ausgeschöpft werden; und sind die Fische in der See nicht ohne Zahl? Wir beginnen zu begreifen, dass wir von dieser Vorstellung Abschied nehmen müssen. Die Monstren des Ozeans sind die unseren, nicht Tiere; auch seine Atmosphären bringen wir mit. Die neuen Einsichten der Ozeanografie und Biologie ergänzen Charrières Bilder, indem sie uns auf einen Tauchgang in die Tiefen der wahren Dinge mitnehmen, der uns daran erinnert, dass die See durchaus kein metaphysisches Ideal ist.
Der oben stehende Pressetext stammt von Nadia Samman. Ein Essay von Samman mit dem Titel Der Taucher wird in dem von der Galerie publizierten Ausstellungskatalog erscheinen, der ab Mai in der Galerie erhältlich sein wird.