13 January - 25 March 2017
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“Marking Triangles”
Dialogausstellung von Tamura Yuichiro & Raul Walch
im Japanischen Kulturinstitut, Köln (The Japan Foundation)
Yuichiro Tamura: Über das Mutmaßen
Es mag genau ein Jahr her sein, dass mich ein Bekannter kontaktierte und fragte, ob ich einen Stein nach Afrika zurückbringen könne. Auf meine Nachfrage erzählte er, dass der Stein, der vor fünf Jahren aus einer bestimmten Höhle in Afrika mitgebracht worden sei... Expand...
Es mag genau ein Jahr her sein, dass mich ein Bekannter kontaktierte und fragte, ob ich einen Stein nach Afrika zurückbringen könne. Auf meine Nachfrage erzählte er, dass der Stein, der vor fuünf Jahren aus einer bestimmten Höhle in Afrika mitgebracht worden sei, Unglück über die Familie bringe. Die Person, die den Stein mitgebracht hatte, ist ein Bekannter meines Bekannten, den ich selber aber nie getroffen habe. Es sei dahingestellt, warum er gerade mich fragte, aber ich übernahm die Aufgabe, weil die Aussicht, für die Rückgabe des Steins in das mir unbekannte Afrika zu reisen, reizvoll und auch irgendwie witzig war.
Von Tokyo Narita aus ging der Flug über Bangkok. Es dauerte einen ganzen Tag, bis ich in der Hauptstadt von Madagaskar ankam. In Begleitung eines lokalen Guides bin ich vom Flughafen aus in einem Mitsubishi mit Vierradantrieb zwei Tage und Nächte unterwegs gewesen, bis wir endlich in der Nähe der Höhle ankamen. Wir stiegen aus dem Wagen und marschierten etwa drei Stunden durch den Dschungel, bis sich vor uns der Eingang einer großen, stockfinsteren Höhle auftat. Im Inneren der Höhle gab es kein Licht, allein unsere Taschenlampen erhellten sie diffus. Dem Guide zufolge wurde diese Höhle anscheinend schon seit uralter Zeit von Menschen genutzt und tatsächlich waren hier und dort verstreut Anzeichen von menschlichen Knochen auszumachen. In einer Ecke im hintersten Bereich der Höhle, wo die Luft durch hohe Feuchtigkeit und Temperatur besonders bedrückend war, lag unser Zielort. Der Guide gab mir ein Zeichen, dass ich ihm den Stein anreichen solle. Nach der Übergabe hob er den Stein über seinen Kopf und platzierte ihn an einer von der Decke hervorstehenden Stelle. Der Stein passte genau.
Am nächsten Tag bin ich in eine Hafenstadt im Norden von Madagaskar gefahren. Beim Gang durch die Stadt habe ich von Einheimischen erfahren, dass es dort ein Denkmal für Japaner gebe. Bei der Recherche, warum es gerade an diesem weit entfernten Ort steht, fand ich heraus, dass Madagaskar, das während der Zeit des Zweiten Weltkriegs eigentlich französische Kolonie war, infolge der deutschen Besatzung Frankreichs unter deutscher Regierungsgewalt stand. Die Aliierten, die das nicht guthießen, wollten den Hafen von Madagaskar unter ihre Kontrolle bringen. Um dies zu verhindern, wandte sich Deutschland mit der Bitte um Unterstützung an Japan. So wurden die britischen Kriegsschiffe, die im Hafen vor Anker gegangen waren, durch Torpedos von U-Booten aus dem fernen Japan versenkt. Später gingen die japanischen Besatzungsmitglieder der U-Boote an Land, wo sie im Kampf mit den englischen Soldaten den Tod fanden. Ich hatte nicht erwartet, an einem solchen Ort eine solche Geschichte zu hören. Letzten Endes hat Japan aufgrund der weiten Entfernung das Interesse an diesem Land verloren. Diese Tatsachen wurden von vielen Japanern vergessen. Es heißt, dass anfangs die Existenz von Madagaskar, das Marco Polo in seinem Reisebericht Il Milione – Die Wunder der Welt beschrieben hatte, angezweifelt wurde. Doch am 10. August 1500 wurde die Insel von dem Portugiesen Diogo Dias „entdeckt“. Später hat Portugal versucht, Madagaskar zu kolonialisieren, was jedoch erfolglos blieb.
Der Plan von Portugal, Madagaskar in koloniale Abhängigkeit zu bringen, endete mit einem Misserfolg. Die Ruder der portugiesischen Schiffe wurden nun in Richtung Japan im Fernen Osten gerichtet. Schließlich landeten die Portugiesen im Jahr 1543 in Japan, und zwar auf der Insel Tanegashima, was großen Einfluss auf das spätere Japan ausüben sollte. So haben die Portugiesen Gewehre nach Japan eingeführt, wodurch sich die Kampfmethoden der Samurai veränderten. Der Sand von Tanegashima hat einen hohen Eisengehalt und wurde als Rohstoff für Gewehrkugeln als nützlich angesehen, sogar so sehr, dass es eine Küste mit dem Namen Kanehamakaigan (wörtlich „Eisenstrandküste“) gibt. Auf dem Schlachtfeld kamen die Samurai durch die aus diesem Küstensand gefertigten Gewerkugeln ums Leben und die Geister der Verstorbenen zerstreuten sich in die Welt. Dank dem Regisseur Kurosawa Akira sind diese auch heute noch als Schatten in aller Stille hier und da in der Welt präsent.
Und nun zu einer anderen Geschichte. Sie handelt von dem berühmten Kölner Parfüm 4711, das auch in Japan verkauft wird. Doch dort ist der Duft ein anderer, wie die japanische Verkaufsstelle auf Nachfrage bestätigt. Der Duft für den japanischen Markt wird in Deutschland produziert, und obwohl die Japaner an der Komposition der Duftnote nicht beteiligt sind, wird noch etwas hinzugefügt. Anders ausgedrückt stellen die Deutschen einen Duft her, von dem sie meinen, dass er den japanischen Geschmack trifft. Auf dem Etikett des 4711-Flakons für den japanischen Markt ist der Produktname Portugal aufgedruckt. Vielleicht haben Sie Lust, die beiden Varianten von 4711 aus Köln und Japan zu testen. Auf diese Weise wird die wertvolle Handlung, sich eine „Vorstellung“ des Gegenüber zu machen - und zugleich die Schwierigkeit dessen – mit dem Geruch erfahrbar.
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Raul Walch: In The Loneliness of the Long-Distance Runner, 2017. Installation
Man sagte mir, das dies Abebe Bikila sei, der erste afrikanische Goldmedaillengewinner. Auch in Japan hatte er 1964 Gold gewonnen. Entlang der Marathonstrecke in Tokyo finde ich verblassende Erinnerungen Expand...
Ein bekanntes Buch in Äthiopien hat den Titel „How Japan did develop“. Mir wurde gesagt, dass es erklärt, wie aus Japan ein Industrieland wurde und es sich aus der feudalen Gesellschaft hin zu einer kapitalistischen entwickelte. Das solle Vorbild sein. Ich fragte Helen, ob sie mir den Titel genau übersetzen kann, da ich annahm, sie hätte mir das Buch geschenkt. Doch kannte sie das Buch gar nicht. Sie hatte mir ein anderes geschenkt, mit einem Titel, der soviel heißt wie „Slumber & Age“. Wenn man es überhaupt übersetzen kann? Ich erinnere mich, dass ich auf der Suche nach Abebe Bikila einen Friedhof fand, der komplett zerstört war (next to St. Joseph Church, sagte man mir). Ich hatte das Helen erzählt und sie sagt mir, sie hätte dort mal ein Video gedreht. Alles dort hätte einem Infrastrukturprojekt weichen müssen und die Gebeine der Toten hätten von Verwandten ausgegraben werden müssen. Dort fand ich dieses statische Monument des Läufers. Man sagte mir, das dies Abebe Bikila sei, der erste afrikanische Goldmedaillengewinner. Auch in Japan hatte er 1964 Gold gewonnen. Entlang der Marathonstrecke in Tokyo finde ich verblassende Erinnerungen. Ein abgerissenes Stadion, ein Relief auf einer Brücke und eine Stadt, die sich ständig erneuert und wächst, so wie Addis Abeba.
Raul Walch: Fabric & Space, 2015. Installation
Es gibt ein Raumkonzept, welches besagt, dass Architektur textilen Ursprungs ist. Der deutsche Architekt Gottfried Semper schreibt in seiner Publikation Textile Kunst (1860)*, dass vor den Wänden bereits die Vorhänge existierten und dass Fries und Ornamente in weiche und organische Materialien gewebt waren. Expand...
Es gibt ein Raumkonzept, welches besagt, dass Architektur textilen Ursprungs ist. Der deutsche Architekt Gottfried Semper schreibt in seiner Publikation Textile Kunst (1860), dass vor den Wänden bereits die Vorhänge existierten und dass Fries und Ornamente in weiche und organische Materialien gewebt waren. Es scheint so, als wären Städte lange vor unserer Zeit ephemer gewesen, aus Stoff gemacht und daher imstande, vielseitig gewandelt zu werden. Schließlich bezeichnet Stoff ja auch Materie oder materielle Entitäten im Allgemeinen (im Gegensatz zu immateriellen Entitäten wie Energie). Die gewebte Materie kann als Netz betrachtet werden, das die Welt zusammenhält. Außerdem gibt es eine direkte sprachliche Verbindung zwischen den Wörtern Wand und Gewand. Wenn Textilien als zweite Haut unserer Körper angesehen werden können, kann eine Struktur wie ein Haus eine dritte bilden?
In Walchs Arbeit werden Textilien als raumschaffendes Material erkundet. Da sich Städte, insbesondere Tokyo, schnell und drastisch ändern, könnte man über urbane temporäre und provisorische Strukturen nachdenken, ohne diese abzureißen. Sie könnten aus weichen und umwandelbaren Formen sein, welche von konventionellen Architekturkonzepten befreit sind. In einem riesigen Zelt wird die Stadt zu einem vorübergehenden Theater. Die Verwendung von Noren (Türvorhang) in japanischen Türen und Fluren erlaubt es, die Häuser durch vorhangartigen Stoff zu betreten, was an einen Theaterauftritt erinnert. Für den japanischen Architekten Toyo Ito ist die europäische Architektur wie ein Museum, in dem Dinge
platziert werden. Japanische Architektur hingegen vergleicht er mit einem Theater, welches normalerweise ein leerer Verschlag ist. Erst wenn etwas aufgeführt wird und sich Menschen versammeln, wird es mit verschiedenen Dingen ausgestattet. Japanische Architektur scheint sehr weich und flexibel zu sein wie die Formen des Furoshiki. Europäische und japanische
Architektur unterscheiden sich wie eine Handtasche und Furoshiki. Während eine Handtasche eine bestimmte Form und Volumen hat, bildet Furoshiki nur eine Form, wenn es etwas umwickelt und ändert so stets seine Form.
Die Installation der Ausstellung steht in direkter Verbindung mit diesen Ideen und Konzepten und soll als mögliches Modell für eine zukünftige urbane Umgebung gesehen werden. Die Muster der Stoffe sind angelehnt an Fliesendesigns, die Walch in Tokyo entdeckt hat und die in ganz Japan zu entdecken sind. Die Gemälde sind eine Abstraktion der ästhetischen Realitäten der Stadt. Die Simplizität der Textilien bricht die symmetrischen, glatten und perfekten Oberflächen der Stadt auf. Sie verleiht ihr eine Unregelmäßigkeit – frei, nicht gebunden an Konventionen, leicht und im Wind flatternd.
Verweis: *Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Frankfurt am Main & München 1860–1863, Band 1
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NOWs:
“Marking Triangles”
Dialogausstellung von Tamura Yuichiro & Raul Walch
im Japanischen Kulturinstitut, Köln (The Japan Foundation)
Yuichiro Tamura: Über das Mutmaßen
Es mag genau ein Jahr her sein, dass mich ein Bekannter kontaktierte und fragte, ob ich einen Stein nach Afrika zurückbringen könne. Auf meine Nachfrage erzählte er, dass der Stein, der vor fünf Jahren aus einer bestimmten Höhle in Afrika mitgebracht worden sei... Expand...
Es mag genau ein Jahr her sein, dass mich ein Bekannter kontaktierte und fragte, ob ich einen Stein nach Afrika zurückbringen könne. Auf meine Nachfrage erzählte er, dass der Stein, der vor fuünf Jahren aus einer bestimmten Höhle in Afrika mitgebracht worden sei, Unglück über die Familie bringe. Die Person, die den Stein mitgebracht hatte, ist ein Bekannter meines Bekannten, den ich selber aber nie getroffen habe. Es sei dahingestellt, warum er gerade mich fragte, aber ich übernahm die Aufgabe, weil die Aussicht, für die Rückgabe des Steins in das mir unbekannte Afrika zu reisen, reizvoll und auch irgendwie witzig war.
Von Tokyo Narita aus ging der Flug über Bangkok. Es dauerte einen ganzen Tag, bis ich in der Hauptstadt von Madagaskar ankam. In Begleitung eines lokalen Guides bin ich vom Flughafen aus in einem Mitsubishi mit Vierradantrieb zwei Tage und Nächte unterwegs gewesen, bis wir endlich in der Nähe der Höhle ankamen. Wir stiegen aus dem Wagen und marschierten etwa drei Stunden durch den Dschungel, bis sich vor uns der Eingang einer großen, stockfinsteren Höhle auftat. Im Inneren der Höhle gab es kein Licht, allein unsere Taschenlampen erhellten sie diffus. Dem Guide zufolge wurde diese Höhle anscheinend schon seit uralter Zeit von Menschen genutzt und tatsächlich waren hier und dort verstreut Anzeichen von menschlichen Knochen auszumachen. In einer Ecke im hintersten Bereich der Höhle, wo die Luft durch hohe Feuchtigkeit und Temperatur besonders bedrückend war, lag unser Zielort. Der Guide gab mir ein Zeichen, dass ich ihm den Stein anreichen solle. Nach der Übergabe hob er den Stein über seinen Kopf und platzierte ihn an einer von der Decke hervorstehenden Stelle. Der Stein passte genau.
Am nächsten Tag bin ich in eine Hafenstadt im Norden von Madagaskar gefahren. Beim Gang durch die Stadt habe ich von Einheimischen erfahren, dass es dort ein Denkmal für Japaner gebe. Bei der Recherche, warum es gerade an diesem weit entfernten Ort steht, fand ich heraus, dass Madagaskar, das während der Zeit des Zweiten Weltkriegs eigentlich französische Kolonie war, infolge der deutschen Besatzung Frankreichs unter deutscher Regierungsgewalt stand. Die Aliierten, die das nicht guthießen, wollten den Hafen von Madagaskar unter ihre Kontrolle bringen. Um dies zu verhindern, wandte sich Deutschland mit der Bitte um Unterstützung an Japan. So wurden die britischen Kriegsschiffe, die im Hafen vor Anker gegangen waren, durch Torpedos von U-Booten aus dem fernen Japan versenkt. Später gingen die japanischen Besatzungsmitglieder der U-Boote an Land, wo sie im Kampf mit den englischen Soldaten den Tod fanden. Ich hatte nicht erwartet, an einem solchen Ort eine solche Geschichte zu hören. Letzten Endes hat Japan aufgrund der weiten Entfernung das Interesse an diesem Land verloren. Diese Tatsachen wurden von vielen Japanern vergessen. Es heißt, dass anfangs die Existenz von Madagaskar, das Marco Polo in seinem Reisebericht Il Milione – Die Wunder der Welt beschrieben hatte, angezweifelt wurde. Doch am 10. August 1500 wurde die Insel von dem Portugiesen Diogo Dias „entdeckt“. Später hat Portugal versucht, Madagaskar zu kolonialisieren, was jedoch erfolglos blieb.
Der Plan von Portugal, Madagaskar in koloniale Abhängigkeit zu bringen, endete mit einem Misserfolg. Die Ruder der portugiesischen Schiffe wurden nun in Richtung Japan im Fernen Osten gerichtet. Schließlich landeten die Portugiesen im Jahr 1543 in Japan, und zwar auf der Insel Tanegashima, was großen Einfluss auf das spätere Japan ausüben sollte. So haben die Portugiesen Gewehre nach Japan eingeführt, wodurch sich die Kampfmethoden der Samurai veränderten. Der Sand von Tanegashima hat einen hohen Eisengehalt und wurde als Rohstoff für Gewehrkugeln als nützlich angesehen, sogar so sehr, dass es eine Küste mit dem Namen Kanehamakaigan (wörtlich „Eisenstrandküste“) gibt. Auf dem Schlachtfeld kamen die Samurai durch die aus diesem Küstensand gefertigten Gewerkugeln ums Leben und die Geister der Verstorbenen zerstreuten sich in die Welt. Dank dem Regisseur Kurosawa Akira sind diese auch heute noch als Schatten in aller Stille hier und da in der Welt präsent.
Und nun zu einer anderen Geschichte. Sie handelt von dem berühmten Kölner Parfüm 4711, das auch in Japan verkauft wird. Doch dort ist der Duft ein anderer, wie die japanische Verkaufsstelle auf Nachfrage bestätigt. Der Duft für den japanischen Markt wird in Deutschland produziert, und obwohl die Japaner an der Komposition der Duftnote nicht beteiligt sind, wird noch etwas hinzugefügt. Anders ausgedrückt stellen die Deutschen einen Duft her, von dem sie meinen, dass er den japanischen Geschmack trifft. Auf dem Etikett des 4711-Flakons für den japanischen Markt ist der Produktname Portugal aufgedruckt. Vielleicht haben Sie Lust, die beiden Varianten von 4711 aus Köln und Japan zu testen. Auf diese Weise wird die wertvolle Handlung, sich eine „Vorstellung“ des Gegenüber zu machen - und zugleich die Schwierigkeit dessen – mit dem Geruch erfahrbar.
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Raul Walch: In The Loneliness of the Long-Distance Runner, 2017. Installation
Man sagte mir, das dies Abebe Bikila sei, der erste afrikanische Goldmedaillengewinner. Auch in Japan hatte er 1964 Gold gewonnen. Entlang der Marathonstrecke in Tokyo finde ich verblassende Erinnerungen Expand...
Ein bekanntes Buch in Äthiopien hat den Titel „How Japan did develop“. Mir wurde gesagt, dass es erklärt, wie aus Japan ein Industrieland wurde und es sich aus der feudalen Gesellschaft hin zu einer kapitalistischen entwickelte. Das solle Vorbild sein. Ich fragte Helen, ob sie mir den Titel genau übersetzen kann, da ich annahm, sie hätte mir das Buch geschenkt. Doch kannte sie das Buch gar nicht. Sie hatte mir ein anderes geschenkt, mit einem Titel, der soviel heißt wie „Slumber & Age“. Wenn man es überhaupt übersetzen kann? Ich erinnere mich, dass ich auf der Suche nach Abebe Bikila einen Friedhof fand, der komplett zerstört war (next to St. Joseph Church, sagte man mir). Ich hatte das Helen erzählt und sie sagt mir, sie hätte dort mal ein Video gedreht. Alles dort hätte einem Infrastrukturprojekt weichen müssen und die Gebeine der Toten hätten von Verwandten ausgegraben werden müssen. Dort fand ich dieses statische Monument des Läufers. Man sagte mir, das dies Abebe Bikila sei, der erste afrikanische Goldmedaillengewinner. Auch in Japan hatte er 1964 Gold gewonnen. Entlang der Marathonstrecke in Tokyo finde ich verblassende Erinnerungen. Ein abgerissenes Stadion, ein Relief auf einer Brücke und eine Stadt, die sich ständig erneuert und wächst, so wie Addis Abeba.
Raul Walch: Fabric & Space, 2015. Installation
Es gibt ein Raumkonzept, welches besagt, dass Architektur textilen Ursprungs ist. Der deutsche Architekt Gottfried Semper schreibt in seiner Publikation Textile Kunst (1860)*, dass vor den Wänden bereits die Vorhänge existierten und dass Fries und Ornamente in weiche und organische Materialien gewebt waren. Expand...
Es gibt ein Raumkonzept, welches besagt, dass Architektur textilen Ursprungs ist. Der deutsche Architekt Gottfried Semper schreibt in seiner Publikation Textile Kunst (1860), dass vor den Wänden bereits die Vorhänge existierten und dass Fries und Ornamente in weiche und organische Materialien gewebt waren. Es scheint so, als wären Städte lange vor unserer Zeit ephemer gewesen, aus Stoff gemacht und daher imstande, vielseitig gewandelt zu werden. Schließlich bezeichnet Stoff ja auch Materie oder materielle Entitäten im Allgemeinen (im Gegensatz zu immateriellen Entitäten wie Energie). Die gewebte Materie kann als Netz betrachtet werden, das die Welt zusammenhält. Außerdem gibt es eine direkte sprachliche Verbindung zwischen den Wörtern Wand und Gewand. Wenn Textilien als zweite Haut unserer Körper angesehen werden können, kann eine Struktur wie ein Haus eine dritte bilden?
In Walchs Arbeit werden Textilien als raumschaffendes Material erkundet. Da sich Städte, insbesondere Tokyo, schnell und drastisch ändern, könnte man über urbane temporäre und provisorische Strukturen nachdenken, ohne diese abzureißen. Sie könnten aus weichen und umwandelbaren Formen sein, welche von konventionellen Architekturkonzepten befreit sind. In einem riesigen Zelt wird die Stadt zu einem vorübergehenden Theater. Die Verwendung von Noren (Türvorhang) in japanischen Türen und Fluren erlaubt es, die Häuser durch vorhangartigen Stoff zu betreten, was an einen Theaterauftritt erinnert. Für den japanischen Architekten Toyo Ito ist die europäische Architektur wie ein Museum, in dem Dinge
platziert werden. Japanische Architektur hingegen vergleicht er mit einem Theater, welches normalerweise ein leerer Verschlag ist. Erst wenn etwas aufgeführt wird und sich Menschen versammeln, wird es mit verschiedenen Dingen ausgestattet. Japanische Architektur scheint sehr weich und flexibel zu sein wie die Formen des Furoshiki. Europäische und japanische
Architektur unterscheiden sich wie eine Handtasche und Furoshiki. Während eine Handtasche eine bestimmte Form und Volumen hat, bildet Furoshiki nur eine Form, wenn es etwas umwickelt und ändert so stets seine Form.
Die Installation der Ausstellung steht in direkter Verbindung mit diesen Ideen und Konzepten und soll als mögliches Modell für eine zukünftige urbane Umgebung gesehen werden. Die Muster der Stoffe sind angelehnt an Fliesendesigns, die Walch in Tokyo entdeckt hat und die in ganz Japan zu entdecken sind. Die Gemälde sind eine Abstraktion der ästhetischen Realitäten der Stadt. Die Simplizität der Textilien bricht die symmetrischen, glatten und perfekten Oberflächen der Stadt auf. Sie verleiht ihr eine Unregelmäßigkeit – frei, nicht gebunden an Konventionen, leicht und im Wind flatternd.
Verweis: *Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Frankfurt am Main & München 1860–1863, Band 1
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